Prof. Dr. Ulrike Guérot

Gedanken zur aktuellen Transformation der Demokratie 

Ich möchte mich dieser Frage in fünf Gedankenskizzen nähern, die die Frage zu beantworten versuchen, welches derzeit die größten Probleme für die Demokratie(n) in Europa sind – und wie Demokratie in Europa neu gedacht werden kann für jenen Zeitpunkt, an dem die zwei großen Kriege – Corona & Ukraine – die derzeit auf dem europäischen Territorium ausgetragen werden – der eine als Stellvertreterkrieg zwischen Kapital und Arbeit, der andere als hybrider Stellvertreterkrieg zwischen den USA und China – beendet sein werden. Nach dieser Zäsur werden wahrscheinlich alle Begrifflichkeiten und Referenzen, mit denen wir heute das demokratische Miteinander beschreiben, einem paradigmatischen Wechsel unterzogen sein. Die Demokratie, wie wir sie kennen, ist jedenfalls vorbei.

  1. Europa, Freiheit und Demokratie sind ein Tryptichon, ein Wertekanon, den wir auf dem europäischen Kontinent unter den Stichworten Liberté, Égalité und Fraternité immer verteidigt haben. Fangen wir mit der Liberté in Europa an. Eine der wichtigsten zeitgenössischen Bewegungen scheint zu sein, dass die EU-Kommission mehr oder weniger dauerhaft einen „Green Pass“ (und damit de facrto eine Bewegungskontrolle von freien Bürger:innen) einführt, der auf einer europäischen Impfplicht beruht. Ohne die medizinischen Komponenten einer Impfplicht hier ansprechen zu wollen, geht es mir als Politikwissenschaftlerin hier darum, darauf zu verweisen, dass ein Green Pass zunächst einmal die Umdeutung des Begriffes eines Passes ist. Ein Pass ist normalerweise ein Dokument, das nicht konditioniert ist, dass man also bei Geburt erhält und der normalerweise unveräußerlich ist und Rechte gewährt. Ein Green Pass hingegen wäre ein Dokument, dass an Bedingungen, in diesem Fall an biopolitische Bedingungen geknüpft ist und mithin zu einem Instrument umfunktioniert wird, dass Ein- und Ausschluss regelt. Der Besitz wird konditioniert. Personen, die ihn nicht erwerben, sind tendenziell ausgeschlossen und tendenziell entrechtet. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben nennt das die zukünftige „Politik der Verbannung“. Souverän ist dann, wer „verbannen“ kann. Damit wäre der künftigen Demokratie ihre eigentliche Grundlage entzogen, nämlich freie und souveräne Bürger:innen; also ihrer politischen Subjekte, die – zumindest, wenn sie nicht-geimpft sind – ihrer politischen Subjektivität enthoben und mithin rechtlos (in der Verbannung) wären.
  2. Durch eine solch paradigmatische Entscheidung wäre die Demokratie – zumindest so wie wir sie kennen – finished…. In der Geburtsstunde der Demokratie von 1789, als aus Untertanen freie Bürger wurden und ein Wahlvolk begründet wurde, entwickelten sich Demokratietheorien, die rund 250 Jahre lang gehalten haben. In ihnen entwickelten Autoren wie Thomas Hobbes oder John Stuart Mill die Verfahren einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie, in denen die Bürger:innen gemeinsam als der Souverän betrachtet wurde, der seine Souveränität an den Staat delegiert. In diesem demokratischen Modell waren Bürgerrechte an die Demokratie geknüpft, anders formuliert, die Tatsache, dass Bürger:innen unveräußerliche Rechte habe, war die Essenz der Demokratie. Das ging mal mehr, mal weniger gut, so dass Kurz Tucholsky schon vor rund einhundert Jahren formulieren konnte: „Alle Souveränität geht vom Volke aus und kommt so schnell nicht wieder“. Die Frage ist also: wohin verschwindet die Souveränität in Zeiten einer „Politik der Verbannung“? Bzw.: was wird aus den „Verbannten“? Die Politikwissenschaft beschäftigt sich aktuell mit Frage, ob eine Demokratie ohne (Menschen-)Recht oder gar ohne Würde vorstellbar ist? Ob wir also in eine Zeit kommen könnten, in der die Demokratie von Bürgerrechten entkoppelt ist? Die kurze Antwort ist: ja, das scheint möglich! Die Demokratie wäre mithin nur noch eine Art Hülle, die von ihrem Wesensgehalt entkernt ist. Was wir schon heute beobachten, ist eine Formalisierung und sogenannten „Eventisierung“ von Politik. Eine Citizens Assembly jagt die andere, die Bürger:innen werden befragt, wo man nur kann, zur Zeitumstellung, der Umgehungsstraße, zum Klima oder zu Europa. Die Frage ist also, ob die sogenannte „diskursive Demokratie“ mehr ist als nur eine Scheindemokratie, oder – wie es in der einschlägigen Literatur heißt – eine „simulative Demokratie“?[1] Die Bürger:innen partizipieren dann zwar, haben aber real immer weniger Rechte. Dazu passt der Ausspruch von Walter Benjamin: „Im Populismus kommt das Volk zu seinem Ausdruck, bei weitem nicht zu seinem Recht.“ Ob die „Simulative Demokratie“ wiederum nur eine Art Vorform des Bürgerkriegs ist, wäre dann zu diskutieren. Auffällig ist jedenfalls, dass der Topos des Bürgerkriegs – lange Zeit vergessen – in der politikwissenschaftlichen Literatur seit etwa fünf Jahren auffällig zurückgekehrt ist und eifrig diskutiert wird. Dazu passt der „Hype“ aktueller Resilienz-Literatur: die Bürger:innen müssen „widerstandfähig“ gemacht werden. Damit sind nicht nur die derzeitigen „Notstandsgesetze“ mit Blick auf das Infektionsgeschehen überall in Europa gemeint. Schon zuvor wurden zum Beispiel mit Verweis auf Terrorgefahren Freiheits- und Bürgerrechte ausgehöhlt und wurden präventive Schutzmaßnahmen etabliert, die z.B. in Frankreich eine Transformation des gesamten Strafrechtssystem bewirkt haben. Anders formuliert: konnten die „1968’er“ noch im Namen der Freiheit Steine werfen oder konnte Jean-Paul Sartre die Arbeiterstreiks der französischen Peugeot-Arbeiter trotz viel Aufruhr intellektuell begleiten, so gelten heute z.B. die Demonstrationen der Gelbwesten als „Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ und können darum schon im Vorfeld verboten werden. Im Kern heißt das, das sozialer Protest – eigentlich der Kern des bürgerlichen Daseins – ebenfalls dem heutigen Sicherheitsimperatif der Demokratie untergeordnet wird, nachdem die „marktkonforme Demokratie“ schon vor Jahren die Demokratie dem Kapitalismus untergeordnet hat. Die Demokratie wurde also zwischen Kapitalismus und Sicherheit zerrieben
  3. Dazu gibt es gibt keinen Ort, keine Verortung der Demokratie mehr. Genauer: wir suchen ihn derzeit, aber wir wissen noch nicht, ob wir ihn finden und wo? Die eine Frage ist die noch physische oder terrestrische: ist die Demokratie lokal, in der Stadt, der Region oder der Nation? Oder ist die Demokratie doch gleich in einem zu schaffenden Weltparlament zu suchen, da die großen Dinge – Klima oder Pandemiebekämpfung – nur noch global zu regeln sind? Die nächste Frage, die das demokratische Geschehen heute belastet, ist jene von Echtheit oder Fiktion: was heißt eine Demokratie im Internet, im Zoom? Wer ist im Internet, wenn man als Kachel im Internet ist? Wie manipulierbar ist das Internet, wem gehört das Internet, was kann man im Internet alles simulieren, wenn heute klar ist, dass man jeden Video-Clip, jedes Kriegsbild fälschen kann? Wieviel Wahrheit braucht eine wahrhaftige Demokratie? Was ist real und was fake? Dass jede Demokratie in der Kybernetik des Internets gleichsam territorial entwurzelt und ohne Ort ist, und darum im metaphysischen Sinn selbst nur noch eine Fiktion sein könnte, das Internet also die „simulative Demokratie“ begünstigt, sind jedenfalls relativ plausible Hypothesen,
  4. Als nächstes ist „Access the new capital”. Es geht nicht mehr um souveräne Bürger:innen, die über ihre gewählten Repräsentanten in Parlamenten de facto über sich selbst entscheiden bzw. sich selbst dem Recht unterwerfen, das sie im Parlament entscheiden. Sondern es geht um Gatekeeper, die Access gewähren oder eben auch nicht. Die Frage ist also, was Access kostet und in welcher Münze bezahlt wird: mit Geld oder mit Unfreiheit, also Entmündigung. Schon heute ist der Pass weniger ein Identitätsträger, denn ein Zugang zu Rechten. Deswegen kaufen chinesische Millionäre – die zwar Geld, aber nicht unbedingt viel Freiheit haben – vorzugsweise kanadische, australische oder Maltesische Pässe, über sie die Freizügigkeit in die EU bekommen. Während Geflüchteten gerade aus diesem Grunde europäische Pässe gerne verwehrt werden, denn sie bedeuten letztlich Access, also Zugang zu Rechten und – das wird gerne übersehen – damit zu Geld, denn die Gewährung von Rechten kosten Geld. Es ist der Pass, also die Staatsbürgerschaft, die den Zugang z.B. zu Sozialhilfe und sozialen Anspruchsrechten gewährt. Souveränität wird zum „Gate-Keeping“ anstatt zur Grundlage parlamentarischer Repräsentation: Staatsbürgerschaften, Pässe und damit Rechte werden zunehmend käuflich. Sie werden ein Produkt und sind nicht mehr unveräußerlich. Blackrock und Google zusammen haben z.B. einen Etat von rund 9 Mrd, und bestimmen die Geschicke vieler Staaten sicherlich mehr als die Parlamente. Was wir beobachten, ist eine „Staat-Company-Fusion“.
  5. Europa soll laut Koalitionsvertrag ein Staat werden. „Die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen wir für Reformen. Erforderliche Vertragsänderungen unterstützen wir. Die Konferenz sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat.“ (Koalitionsvertrag Zeilen 4413 bis 4421) Die Idee einer europäischen Staatsgründung begleitet das europäische Einigungsprojekt seit seinen Ursprüngen in den 1950er Jahren. Immer war von europäischem Föderalismus die Rede. Jetzt kommt diese Idee also wieder, wahrscheinlich als Reaktion auf die Pandemie, in der Europa zwischen den USA und China zerrieben wurde und wird. Schon vor der Pandemie ging es Europa schlecht: Bankenkrise, Austeritätspolitik, Geflüchtetenkrise, Brexit, Populimsus und Nationalismus, ein drohender Polexit oder gar ein Wahlsieg von Marine Le Pen oder Eric Zemmour sind hier die Stichworte. Kann Europa einem drohenden Zerfall, diesen dystopischen Szenarien durch den emanzipatorischen Akt einer Staatsgründung begegnen? Und wenn ja, wie könnte das aussehen, was würde das bedeuten für die europäische Demokratie? Denn wer heute über die Zukunft oder Transformation der Demokratie diskutiert, kommt an der europäischen Frage nicht vorbei.

[1] Siehe das Buch von Ingolfur Blühdorn mit dem gleichnamigen Titel, Suhrkamp 2015